2016 war ein Jahr, das mit politischen Gewissheiten nicht gerade zimperlich umgegangen ist. 2017 scheint das nochmal in den Schatten stellen zu wollen. Vor den wichtigen Wahlen in Deutschland und Frankreich hat sich die Erwartungslage, wer dort gewinnen wird, völlig auf den Kopf gestellt – und zwar innerhalb von nur wenigen Tagen. Beide Länder haben plötzlich neue Hoffnungsträger für das jeweilige Spitzenamt. Das ist umso wichtiger, da 2017 die Weichen für die Zukunft Europas stellen wird. Es erscheint nicht mehr ausgemacht, dass die Populisten auf dem Vormarsch bleiben und die EU Ende des Jahres am Rande ihres Endes balancieren wird. Das Gegenteil könnte der Fall sein.

Eine völlig andere Lage als vor drei Wochen

Es ist der politische Megatrend des noch jungen Jahres: Die Abfolge der politischen Ereignisse beschleunigt sich enorm. Nicht nur wegen Trump, der ein Dekret nach dem anderen produziert. In Deutschland ist mit Martin Schulz überraschend ein neuer Akteur auf die Bühne getreten. Bewegung! Endlich ein frischer Kandidat, sympathisch, authentisch, glaubwürdig, ohne den Ballast der SPD-Regierungsjahre auf dem Rücken. Er begeistert die Menschen. Die reagieren befreit und geben ihm einen großen Vertrauensvorschuss: Innerhalb kürzester Zeit hat die SPD rund zehn Prozentpunkte zugelegt und die CDU/CSU mit ihrer müden Kanzlerin in einer Umfrage sogar überholt. Ein politisches Erdbeben, das einen sozialdemokratischen Kanzler plötzlich wieder in den Bereich des Möglichen rückt. Zum ersten Mal seit 2005.

Parallel erlebt Frankreich einen ähnlichen Erdrutsch. Vor drei Wochen sah der ultrakonservative François Fillon noch wie der sichere nächste Präsident aus. Dann berichteten Medien, dass er seiner Ehefrau absurd hohe Summen aus der Staatskasse quasi ohne Gegenleitung bezahlt hat. Plötzlich liegt Fillon nur noch auf Platz drei in den Umfragen und käme noch nicht einmal mehr in die Stichwahl. Vor ihm liegen die Rechtsextremistin Le Pen – und der Jungstar der französischen Politik, der ehemalige Wirtschaftsminister Macron. Laut Umfragen würde dieser im zweiten Wahlgang deutlich gewinnen. Eine verkehrte Welt – kein Kandidat der etablierten Parteien Frankreichs scheint derzeit eine Chance zu haben. Was bedeutet das für die EU?

Macron und Schulz: Zweimal Leidenschaft für Europa

In Frankreich ist die Präsidentenwahl eine Richtungswahl. Der Aufsteiger Macron begeistert die bereit 185.000 Anhänger seiner Bewegung „En Marche“ nicht zuletzt mit einer positiven Vision der Europäischen Union. Während Le Pen sie am liebsten abschaffen würde, stellt Macron die EU sogar ins Zentrum seiner Kampagne. Er fordert eine „Neugründung“ der Union und lässt keinen Zweifel, dass er mehr Zusammenarbeit, mehr Kooperation und eine tiefere Integration für den richtigen Weg hält. Mancher seiner Vorschläge wie die Wirtschaftsregierung oder der europäische Finanzausgleich dürfte zwar in der Bundesrepublik mindestens kontrovers diskutiert werden. Aber wenn das Projekt Europäische Union für die Zukunft gerüstet werden soll, bedarf es ganz sicher einer unvoreingenommenen Diskussion über neue Ideen.

In Deutschland wird nach der Bundestagswahl in jedem Fall ein pro-europäischer Politiker die Regierung führen. Doch im Gegensatz zur Kanzlerin kann Martin Schulz die Menschen begeistern, eine Idee von Europa vermitteln, bei der der Funke überspringt. Zudem formuliert er eine inhaltliche Vision, die auch eine Aufgabenkritik der EU und eine striktere Auslegung ihrer Rolle enthält, aber auch eine stärkere wirtschaftliche Zusammenarbeit vorsieht. Das ist nicht nur ein sinnvolles Ziel, sondern auch angenehm konkret und damit ein wohltuender Unterschied zu der andauernden Nicht-Positionierung Angela Merkels.

Den deutsch-französischen Motor neu starten

Beide sind natürlich noch lange nicht am Ziel. Beide werden inhaltlich noch einige Konkretisierungen folgen lassen müssen, um am Ende eine Mehrheit zu überzeugen. Macron hat darüber hinaus noch einige spezifische Probleme zu lösen.

Aber beide zusammen könnten Europa den Impuls geben, den es so dringend benötigt. Frankreich und Deutschland waren in der Vergangenheit der historische „Motor der Integration“. Mit Schulz und Macron ist ein neues europäisches Duo vorstellbar, das die Kraft und die Leidenschaft hat, den eingeschlafenen Prozess der europäischen Integration mit Leidenschaft anzugehen. Beide Kandidaten haben mit ihrer Herangehensweise von mehr Integration, mehr Demokratie und einem stärkeren sozialen Ausgleich innerhalb der Union die richtigen Ideen, um die EU um jene Aspekte zu ergänzen, die ihr bislang fehlen.

Le Pen: Russlands neues Projekt

Dass Macron eine realistische Chance hat, sieht man nicht zuletzt an der Reaktion aus Russland. Russische Medien haben begonnen, die Schlammschlacht einzuleiten und behaupten, dass Macron homosexuell sei. Dass das heutzutage noch als Vorwurf gelten soll, ist zwar absurd. Aber möglicherweise folgen noch weitere „Enthüllungen“. Aus russischer Sicht streben zwar beide, Macron und Le Pen, bessere Beziehungen zu Moskau an. Doch die Stärkung des europäischen Projekts kann kaum im Sinne des Kreml sein. Besser daher eine Le Pen, die die EU mindestens sehr schwächen wird, wenn nicht ganz zerschlagen. Dann könnte Putin mit einzelnen Staaten verhandeln, zum Beispiel über Gaslieferungen, und diese einzelnen Staaten hätten wesentlich weniger Marktmacht und damit eine viel schlechtere Verhandlungsposition als die EU gemeinsam.

Grund zu Optimismus

Bis auf Weiteres sind die letzten drei Wochen nur ein kleiner Ausschnitt unserer Gegenwart, in der sich feste Gewissheiten in atemberaubender Geschwindigkeit ändern können und die Realität morgen früh eine ganz andere sein kann als noch heute Abend. Niemand weiß, ob ein Präsident Macron überhaupt eine Mehrheit für seine Politik versammeln könnte. Niemand weiß, ob Schulz die hohe Energie der ersten Tage über den gesamten Wahlkampf halten kann. Trotzdem bieten beide Entwicklungen Grund zur Hoffnung, sogar Grund zu Optimismus.

2017 wird in Bezug auf bahnbrechende Veränderungen in der politischen Landschaft kaum hinter 2016 zurückblieben. Neu ist, dass sich Europa dieses Mal Hoffnungen machen darf, dass die Veränderungen zum Guten sein werden.