Viel ist in diesen Tagen von staatspolitischer Verantwortung die Rede. Die Interessen des Landes seien wichtiger als die einer Partei. Adressat, immer: Die SPD. Warum sie trotzdem nicht in die Große Koalition gehen darf und genau das ihre staatspolitische Verantwortung ist.

„Staatspolitische Verantwortung“. Die meisten Kommentatoren verwenden den Begriff im kurzfristigen Kontext: Das Land braucht eine stabile Regierung, deshalb soll die SPD jetzt in die Große Koalition gehen, unabhängig davon, wie sie bei der nächsten Wahl abschneidet. Egal, was in vier Jahren passiert, jetzt ist erstmal die Gegenwart wichtig. Normalerweise wird dieses kurzsichtige Denken in Wahlperioden gerne bei Politikern kritisiert. Jetzt soll es für Deutschland plötzlich richtig sein.

Aber es greift zu kurz. Verantwortungsvolle Politiker müssen das Wohl des Landes über die vier Jahre hinaus im Blick haben. Ebenso muss die SPD das langfristige Wohl des politischen Systems in Deutschland berücksichtigen. Es ist eben nicht egal, ob die SPD bei der nächsten Wahl 2021 noch weiter unter 20% rutscht. Ob sie sich marginalisiert wie in Frankreich, den Niederlanden oder Polen. Das kann niemand wollen.

Politische Mitte braucht Auseinandersetzung

Denn dann hätte Deutschland mit der Union dauerhaft nur noch eine einzige Partei, die groß genug ist, um eine Regierung anzuführen. Das aber wäre fatal für das politische System, wie wir es kennen. Die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland war über Jahrzehnte hinweg auch deshalb so stabil, weil es eine klare Auswahl gab. Garant dafür war die Unterscheidbarkeit der beiden Volksparteien. Sie standen für unterschiedliche Konzepte und politische Richtungen, sie boten klare Alternativen, wer Kanzlerin oder Kanzler der Bundesrepublik werden würde.

Die beiden großen Koalitionen der letzten Jahre haben genau diese wichtige Unterscheidbarkeit verwischt. Mit ihnen entstand eine überwältigende Einigkeit, ein lähmender Konsens in der Mitte des Deutschen Bundestags. Die große Koalition ist mit dafür verantwortlich, dass die AfD mit ihrer kruden Story erfolgreich sein konnte, der zufolge „die da oben“ angeblich alles bestimmen und die Meinung des „wahren Volkes“ absichtlich ignorieren. Die große Koalition stärkt die Ränder, weil sie den inhaltlichen Wettstreit, den Wettbewerb um die besten Ideen für das Land, aus der politischen Mitte ausblendet und den extremen Parteien überlässt. Erschwerend hinzu kommt der absurd unpolitische Ansatz von Angela Merkel, die der Auseinandersetzung um politische Inhalte stets ausweicht und damit ebenfalls ihren Teil zum Erstarken der AfD beiträgt.

Klare Alternativen

Die staatspolitische Verantwortung der SPD ist es, zurück auf einen Weg zu finden, mit dem sie – inhaltlich, personell, strukturell – eine realistische Chance hat, bei der nächsten Wahl das Bundeskanzleramt zu übernehmen. Mit einer klaren Alternative zur Politik vor allem der Unionsparteien. Nicht um ihrer selbst willen. Sondern damit die Wählerinnen und Wähler eine echte Auswahl haben zwischen verschiedenen Inhalten, Weltanschauungen und Personen. Damit es in der Mitte des politischen Spektrums eine echte Wahl gibt.

Diese staatspolitische Verantwortung ist mittelfristig, sie geht über den Tag hinaus. Sie schaut eben nicht auf den kurzfristigen Nutzen der Partei, sondern auf den mittel- und langfristigen Nutzen für das Land. Deutschland braucht eine starke Sozialdemokratie. Das scheint im Moment weit entfernt. Mit viel Arbeit, mit Zeit, Geduld und Ausdauer kann und wird es der SPD aber gelingen, dorthin zurück zu finden. Und vor allem: Ohne Beteiligung an einer großen Koalition – und mit Führungspersonal, das nicht nur das persönliche Vorankommen im Blick hat.

Der erste Schritt dafür ist Glaubwürdigkeit: Wer sagt, dass er nicht in eine große Koalition geht, muss auch dazu stehen. Egal, ob der Wind ihm ins Gesicht weht. „Sturmerprobt seit 1863“ ist die SPD – wenn sie dies geschlossen beherzigt und sich geschlossen gegen den Wind stellt, kann sie schon bald sehr viel weiter sein.

Denn eigentlich liegt der Ball ja bei der CDU. Und in Anbetracht des Schweigens von Angela Merkel, ihrer Unfähigkeit zur Bildung einer Jamaika-Koalition, ihrer Verweigerung der inhaltlichen Debatte – wann fragt da endlich mal jemand nach der staatspolitischen Verantwortung?