Im Juni war ich zu Gast bei der Deutschen Welle in Bonn. Anlass war die Verleihung des ersten Boris-Nemzow-Preises. Boris Nemzow war ein russischer Oppositionspolitiker, der am 27. Februar 2015 auf einer Brücke in Moskau ermordet wurde. Den Preis überreichte seine Tochter Zhanna Nemzowa, eine russische Journalistin, die jetzt für die Deutsche Welle arbeitet.

Der Preis wurde verliehen für „Mut“. Das ist eine schlichte, knappe Kategorie. Einfach Mut. Mut in der Politik, was bedeutet das? Unter den Nominierten sind die wenigsten in Deutschland bekannt. Die meisten politisch Interessierten dürften Alexei Nawalny kennen, der in Moskau als Bürgermeister kandidiert hat, vielleicht auch Nadeschda Sawtschenko, ukrainische Pilotin, längere Zeit in russischer Gefangenschaft.

Eher unbekannt – mir zumindest vorher – ist der Preisträger Lew Schlossberg. Er gibt die Zeitung Pskowskaja Gubernija heraus, die als erste darüber berichtet hat, dass russische Fallschirmjäger in der Ukraine tätig waren und, nachdem sie gefallen sind, geheim in Russland beerdigt wurden. Die Zeitung erscheint in Russland auf Russisch. Schlossberg wurde wenige Tage nach der brisanten Veröffentlichung von Unbekannten verprügelt.

Engagement, das drastische Konsequenzen haben kann

Ich saß im Publikum und habe mich gefragt, wie viele von denen, die sich bei uns in Deutschland politisch engagieren, sowohl ehrenamtlich als auch hauptamtlich, weiterhin Politik machen würden, wenn ihr Engagement so drastische Konsequenzen haben könnte: Dass man zusammengeschlagen wird. Dass man um seine Gesundheit oder sogar um sein Leben fürchten muss, dass man für ein paar Jahre ins Gefängnis oder Straflager kommen kann. Oder – besonders perfide – dass ein Familienangehöriger die Konsequenzen tragen muss, wie bei Nalawny, dessen Bruder einer hohen Gefängnisstrafe verurteilt wurde.

Wenn das die Folgen sein können, einfach dafür, dass man offen seine Meinung sagt, und diese Meinung eine andere als der Herrschende ist, oder dass man eine Wahrheit aufdeckt, die den Mächtigen nicht passt – würdet ihr eure Meinung noch offen sagen? Würdet ihr für die Wahrheit kämpfen? – Ich habe mich gefragt: Würde ich das tun? – Ich muss ehrlich sagen, dass ich es nicht weiß. Ich hoffe es zwar. Aber wissen kann ich es nicht, weil ich nie in der Situation war und hoffentlich auch nie in eine solche Situation komme. Aber es passiert! Nicht weit weg, damals, sondern jetzt, heute, hier, Menschen, die dort wenige Meter entfernt von mir auf der Bühne standen, es passiert jetzt gerade im Moment, in Europa, in Russland und in anderen Ländern. Ich kenne viele junge engagierte Russinnen und Russen, ihre Lebensrealität scheint mir immer sehr ähnlich zu unserer zu sein. In diesem Punkt ist sie aber meilenweit entfernt.

Kommunalpolitische Details: Ein gutes Zeichen

Unwillkürlich musste ich an die deutsche Kommunalpolitik denken, in der ich mich engagiere, und eine übliche Sitzung der Bezirksvertretung Porz. Daran, wie oft und leidenschaftlich wir diskutieren, wo neue Bänke aufgestellt werden sollen und wofür wir unser Geld am besten einsetzen – für neue Bäume? Abfallbehälter? Für die Instandsetzung einer Grünfläche, die ja doch ziemlich zugewuchert war von ein paar frechen Büschen und wo häufiger der Rasen gemäht werden sollte? Engagierte Diskussionen, wichtige Themen. Ich meine das nicht ironisch, denn so ist es, für manche Leute, an manchen Orten ist das sehr wichtig. Boris Nemzow kämpfte für völlig andere, viel grundsätzlichere Ziele. In Relation gesetzt eine Absurdität: „Die müssen um ihr Leben fürchten, weil sie für Meinungsfreiheit kämpfen. Und wir diskutieren über Parkbänke.“

Tatsächlich ist die Tatsache, dass wir uns in unserer deutschen Demokratie den Luxus leisten können, einen solchen Aufwand in die Diskussion von solch kleinteiligen Problemen stecken können, eigentlich ein gutes Zeichen: Dafür, wie weit wir gekommen sind. Auch in Westeuropa, auch in Deutschland gab es Menschen, die für Freiheit und Demokratie gekämpft haben. Die um ihr Leben und ihre Freiheit fürchten mussten, wenn sie ihre Meinung gesagt haben, vor gar nicht allzu langer Zeit.

Letztendlich haben Generationen vor uns für Meinungsfreiheit und Demokratie gekämpft, eben damit wir nun, Jahre später, uns ohne Sorgen um die Parkbänke streiten können. Und damit wir eben keinen außergewöhnlich großen Mut mehr brauchen, um uns politisch zu engagieren. Ein Problem entsteht daraus nur, wenn wir unsere Freiheit nicht mehr wertschätzen, weil wir sie für selbstverständlich halten. Nutzen wir diese Freiheit, denn auch im Kleinen kann man viel erreichen. Und verteidigen wir diese Freiheit und unsere Demokratie offensiv gegen alle, die sie gering schätzen oder die sie mit populistischen Parolen in Gefahr bringen. Auch, wenn das Mut erfordert.